...der Anfang:
1
Vorbereitung
Das Handy brummt. Schon wieder eine SMS. Genervt wühlt die rothaarige Studentin in ihrer Tasche, um nachzusehen, was ihre Freundin nun wieder von ihr will. Das Telefon ist natürlich nach ganz unten gerutscht, und während sie noch sucht, geht ein ganz und gar unauffälliger Mann an ihrem Arbeitsplatz in der Bibliothek vorbei und biegt um die nächste Regalreihe. Er zieht einen Kugelschreiber aus der Schultertasche, drückt hinten auf den Schieber, so dass vorne die Mine schreibbereit herausschaut und legt den Stift neben eine Reihe Soziologiebücher über Identität, knapp oberhalb seines Kopfes. Eine Etage höher, bei den Büchern über die Französische Revolution, wird er eine Minute später das Gleiche tun. Die Studentin hat ihr Telefon gefunden und verdreht die Augen. Schon wieder Liebeskummer. Ihre Freundin sollte sich lieber öfter zum Lernen vergraben, statt ihr mit ständig wechselnden Affären das Leben schwer zu machen. Der Mann verlässt die Bibliothek. Er hat kein Buch ausgeliehen, aber fünfzehn Kugelschreiber aktiviert und abgelegt. Selbst im Leseraum für wertvolle Manuskripte war er, und die zuständige Bibliotheksangestellte war die einzige, mit der er an diesem Morgen ein Wort gewechselt hat. Er fragte nach den Reichenauer Handschriften. Aber die liegen seit jeher in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe.
In der Mensa verteilt eine junge Frau Flyer für die nächste Party. Auf jedem Tisch landet ein Zettel; ein paar fallen auf den Boden. Niemand hebt sie auf. Es ist noch relativ leer hier, der Ansturm beginnt erst gegen halb zwölf.
Ein kleiner Mann geht in der Eingangshalle umher und pinnt Aushänge an die Wände. Zu verkaufen: Gebrauchtes Rennrad. 150 Euro, mit Telefonnummer. Um ihn herum fluten die Studierenden den Raum und fließen in unterschiedliche Richtungen ab. Stimmengewirr, Lachen, Verabredungen. Der kleine Mann ist bereits auf dem Weg zum Parkplatz, als die Erste vor einem seiner Zettel stehen bleibt, gleich das Telefon aus der Tasche ihrer Sporthose zieht und die Nummer wählt. Eine undeutliche Stimme leiert den üblichen Mailbox-Spruch herunter: "Ich kann gerade nicht ans Telefon kommen, aber hinterlasst mir doch eine Nachricht." Schade.
Als die Sportstudentin sich umdreht, rauscht einer der Hausmeister in seinem dunkelgrünen Kittel an ihr vorbei. Sie lacht in sich hinein. Dieser Kerl sieht immer aus, als sei er in einer höchst wichtigen Mission unterwegs. Wahrscheinlich funktioniert wieder irgendwo ein Beamer nicht. Wichtige Mission. Und dabei sieht er aus wie ein Covermodel für Heftromane aus den neunziger Jahren. Langes Haar, kleines Kinnbärtchen und schmaler Schnauz, eng anliegendes T-Shirt, dessen offene Knöpfe das Brusthaar sehen lassen, verbringt offensichtlich viel Zeit im Fitnessstudio. Der grüne Hausmeistermantel bauscht sich im Schwung seines entschlossenen Schrittes. Sie stellt sich immer vor, wie er als junger Mann Pate stand für all die Highlander, englischen Lords, Wikinger, und sonstigen Titelhelden. Seine beste Zeit ist vorüber, die Fältchen um die Augen verraten sein Alter, er muss an die fünfzig sein, aber die geschwellte Brust, der Gang des Helden und das wehende Haar sind ihm geblieben. Sie schüttelt den Kopf über ihre blühende Fantasie und geht weiter zum Automaten, um sich eine Cola zu ziehen. Das Rennrad ist vergessen.
Auf dem Parkplatz wartet der unauffällige Mann bereits an einem Mercedes, als die junge Frau und der kleine Mann auftauchen. Sie steigen gemeinsam in das blaue Auto und fahren davon, über die einzige Zufahrtstraße zum Campus.
Die Sekretärin des Rektors tippt ein Memo, das an alle Organisationseinheiten geht:
Betreff: Erneuerung der Belüftungsanlagen
Aufgrund der derzeit laufenden Baumaßnahmen findet am Freitag den 2. November zwischen 9:00 und 12:00 eine routinemäßige Schadstoffmessung im gesamten oberen Bibliotheksbereich statt. Bitte stellen Sie sich darauf ein, dass es zu Lärmbelästigung und Verzögerungen bei der Verbuchung kommen kann. Legen Sie Ihre Bibliotheksarbeitszeit wenn möglich auf einen anderen Tag. Wir danken für Ihr Verständnis. Mit freundlichen Grüßen.
An einem weit entfernten Ort sitzt ein Mann im Halbdunkel vor dem Bildschirm seines Computers. Seine Finger verharren über der Tastatur. Er ist abgelenkt, nicht hundertprozentig bei der Sache. Vor seinem inneren Auge sieht er den See, leuchtend blau in der Sommersonne, dunkelgrün am frühen Morgen, bleigrau unter Novembernebel. Der Blick aus dem Fenster, auf die ewig wechselnden Farben, ist einmal sein liebstes Morgenritual gewesen. Aber der Gedanke an diese launische Schönheit aus Wasser und Licht ändert nichts an seinem Plan. Mit einem verächtlichen Lachen verbannt er die Bilder aus seinem Kopf und konzentriert sich wieder auf die Arbeit. Heute steht der See nur noch als Chiffre für einen Ring, den er erobern, eine Bank, die er ausrauben, einen Planeten, den er zerstören wird.
Die ersten Schritte sind getan, die Uhr tickt. Jetzt kann er geduldig warten, in der Gewissheit, dass seine Stunde kommt. Unaufhaltsam. Während er seine Berechnungen mit wechselnder Konzentration durchgeht, suhlt er sich geradezu im Gefühl seiner Überlegenheit. Die Vergleiche tanzen durch seinen Kopf. Ich bin dein Vater. Ich bin der Große Bruder. Nein, besser, ich bin der Hüter meines Bruders. Er kichert. Damit wäre die Frage nach seinem Codenamen auch geklärt. Dann nimmt er, immer noch erheitert, sein Handy zur Hand.
2
Warten
Die rothaarige Studentin sitzt wieder an ihrem Platz bei den Soziologie- büchern. Eine ruhige Ecke, besonders Freitags, wenn viele bereits auf dem Heimweg ins Wochenende sind. Es sei denn, ihre bisweilen sehr anstrengende Freundin belästigt sie mit ihren endlosen Textnachrichten. Heute ist es noch leerer als sonst, und die Ruhe tut gut. Das Lernen geht voran.
Umso mehr erschrickt sie, als plötzlich eine Stimme durch die Sprechanlage ertönt, von der sie nicht einmal gewusst hat, dass es sie gibt. "Leider müssen wir die Bibliothek aus dringendem Anlass schließen. Bitte begeben Sie sich umgehend zur Verbuchung und nehmen Sie ihre per- sönlichen Gegenstände mit. Ich wiederhole: Die Bibliothek muss umge- hend geschlossen werden. Bitte begeben Sie sich zum Ausgang."
Was? Es ist Freitagnachmittag, und das ist eine 24-Stunden-Bibliothek! Ein Fakt, mit dem die kleine Eliteuniversität auf ihrer Homepage stolz wirbt. Während die Rothaarige noch kopfschüttelnd ihre Bücher und den Notizblock einpackt, kommt bereits ein Mitarbeiter auf sie zu und bittet sie ebenfalls, sofort zum Ausgang zu gehen. Kein Brandgeruch, kein Lärm, nur diese Stille, die nun mit einem Mal gar nicht mehr angenehm, sondern unheimlich und bedrohlich wirkt.
Es sind nur eine Handvoll Studenten, die sich nun ratlos vor der verschlossenen Tür der Bibliothek wiederfinden. Mutmaßungen werden geäußert, dem Ärger Luft gemacht. "Was soll denn das, kann man uns nicht wenigstens sagen, was hier eigentlich los ist?" "Wenn es brennen würde, müsste man es riechen." "Ja, aber was kann es denn sonst wohl sein?" "Ich habe meine Tasche vergessen, ich muss nochmal rein." "Da wirst du Pech haben, die Angestellten sind auch alle raus. Die sehen genauso schlau aus wie wir." "Hallo, wissen Sie was da genau los ist? Meine Tasche ist noch da drin." "Das ist doch lächerlich, wieso dürfen Sie nicht mehr aufschließen, was soll der Scheiß?" Man diskutiert, man entschuldigt sich, man weiß nichts. Zögernd löst sich der kleine Haufen auf, lernt zuhause weiter, startet verfrüht ins Wochenende, verflucht die dämliche Uni, geht ein Bier trinken.
Am Samstag geht eine Mail über die Schließung der Bibliothek an den Uni-Verteiler, aber wer schaut schon am Wochenende nach?
Die Rothaarige trifft sich mit ihrer Freundin in einem Club, im kleinen Industriegebiet der Stadt, und bekommt den neusten Fang serviert, einen hübschen Langweiler. Aber man kann ja nicht immer lernen. Für sie selbst ist nichts Interessantes dabei, immer dieselben Gesichter. Man hätte in einer Großstadt studieren sollen, nicht hier in der Idylle am Bodensee, wo alles so überschaubar und bekannt ist. Jetzt geht es darum, schnell fertig zu werden, und dann einen Job irgendwo zu finden wo es spannender ist. Hoffentlich hat die Bibliothek am Montag wieder auf, sie muss lernen. Die Sportstudentin mit den Hausmeisterfantasien geht joggen, verbringt die Nacht bei ihrem Freund, bleibt den Sonntag über mit ihm im Bett. Es ist ein gutes Wochenende, die Liebe ist noch frisch. Sie machen Pläne, wollen ins Ausland, Australien wäre für beide der Traum. Der blonde Hausmeister trainiert im Studio, wäscht seinen Wagen, einen alten weißen Mercedes, mit Hingabe. Und natürlich von Hand. Er verbringt den Samstagabend bei seiner Modelleisenbahn, bastelt und po- liert, baut eine neue Brücke zusammen. Am Sonntag liest er einen alten Tom Clancy Roman. Zum dritten Mal? Er liebt gut gemachte Thriller, auch die unwahrscheinlichen. Am Abend wird er den Hamburger Tatort anschauen, und ihn schlecht gemacht finden. Ein hanebüchener Terrorismus-Plot. Sowas sollten sie den Amerikanern überlassen, die können solche Geschichten erzählen.
Die junge Frau, der unauffällige und der kleine Mann warten. Um sich die Zeit zu vertreiben, färbt sich die Frau die Haare braun. Sieht ganz anders aus als zuvor. Der Kleine rasiert sich den schicken Bart ab, komplett glatt. Der Unauffällige setzt eine auffällige Brille auf, um die Zeitung zu lesen. Er sieht gar nicht aus, als brauche er eine Lesehilfe. Sie warten. Auf dem Schrank neben dem Kachelofen steht ein kleiner brauner Karton in dem fünfzehn Kugelschreiber liegen und darauf warten, mitsamt ihrer Verpackung im Ofen zu verschwinden. Die junge Frau hat sie bereits am Freitagmorgen abgeholt. Draußen wehte an diesem Tag ein kalter Wind, aber die Bibliothek war angenehm beheizt. Trotzdem hat sie weder den mehrfach um Hals und Mund gewickelten Schal noch ihre Lederhandschuhe ausgezogen.
Dr. Claudia Rapp
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